Willem's Neujahrswunsch
Onkel Willems Neujahr ist versaut, bevor es kommt. Und das hängt mit Onkel Willems Neujahrspostkarte zusammen. Onkel Willem ist ein Verwandter, von dem man altmodisch sagen würde: Er ist schon manchmal etwas ,,eigen". Altmodisch passt ohnehin auf Onkel Willem: Er achtet deshalb auf seine Formen, die so alt sind wie er selbst: Achtzig. So schickt er deshalb Weihnachtsgrüße und Neujahrgrüße auf gedruckten Karten in englischer Schreibschrift. „Onkel Willem achtet eben auf sich," flüstert Esther, seine Nichte, mit leicht entschuldigendem Ton. Und „Willem ist ein Angeber" trompetet Tante Ulrike, Onkel Willems Schwester. Onkel Willem ist so eigen, dass er meinem Vetter gestern glatt dessen Weihnachtsglückwunsch-Postkarte zurückgeschickt hat. Denn der hat ihn nur mit ,,Onkel Willem" angeredet. Statt ausgeschrieben mit Wilhelm". Das ist aber nicht der Grund, weswegen Onkel Willems Neujahrsfest versaut ist. Das hängt mehr mit Geschichte zusammen. Denn darin ist er besonders eigen, in Geschichte, die er nicht nur gut kennt, sondern liebt. Vor allem die jüngere deutsche Geschichte. Einschließlich der Zeiten vor 1945. Denn diese Zeiten waren Onkel Willems große Zeiten. Er schwärmt, wenn man ihn nicht bremst, weiterhin von der H), in der er es weit brachte und später, wird gemunkelt, brachte er es noch ein bisschen weiter. Allerdings nicht so weit, dass er hätte büßen müssen. Übrigens, als Esther, Onkel Willems einzige Nichte, die alles erben soll, geboren wurde, da gab es einen Riesenkrach wegen des Namens. Denn Onkel Willem hatte etwas gegen den jüdischen Namen Esther. Na ja. Auch die Onkel Willems dieser Welt sollen Weihnachten und Neujahr feiern. Zumal der Hagestolz allein lebt. Nur Esther tut mir leid, die ihn alle Festtage einladen muss. Um das Erbe zu behalten. Schwierig oder gar unmöglich ist dies Neujahr für Onkel Willem, weil er diesmal ganz modern sein wollte und seine gedruckte Karte nach dem obligaten Vers von Goethe - ganz gegen seine Formen – mit einem saloppen „Guten Rutsch" enden ließ. „Guten Rutsch" mit Ausrufezeichen! Onkel Willem fühlte sich ganz der neuen Zeit gewachsen mit dieser Kraft zur modernen, für ihn „jugendnahen“ Sprache. Aber nun hat ihn ein Regimentskamerad angerufen, der Onkel Willems Karte auch bekommen hat. „Weißt du, was das heißt, Willem?" fragte der Regimentskamerad Onkel Willem am Telefon so, dass Onkel Willem ebenso ehrlich wie misstrauisch mit „Nein" antwortete. „Die ersten beiden Worte der Bibel - du weißt schon - AM ANFANG steht da – werden im Hebräischen ROSCH ausgesprochen. Und, mein Lieber, die östlichen Juden riefen sich in ihrem Jiddisch an Silvester „A gut Rosch!" zu. Einen guten Anfang! Woraus wir dann den „Guten Rutsch“ machten. Na? Was sagst du dazu, ausgerechnet du?" Onkel Willem sagte gar nichts. Aber ich: „A gut Rosch!“
30. Dezember 2003